Kommentar zur "Ambulantisierung" im Gesundheitswesen
von Prof. Dr. Jens-Uwe Niehoff
Die Priorisierung von medizinischen, rehabilitativen und pflegerischen Behandlungskompetenzen ist unter dem Stichwort „ambulant vor stationär“ weder neu noch originell. Schwierig ist die Praktizierung eines solchen Paradigmas sowohl aus der Patienten- wie auch aus der rechtlichen und institutionellen Perspektive. Unverkennbar berührt dies nicht nur Interessen, sondern auch die Schaffung der notwendigen Voraussetzungen.
Aus sozialmedizinischer Sicht sind vor allem folgende Problemfelder berührt:
- die patientenseitigen Interessen und Bedarfe
- die versorgungsstrukturellen und -prozessualen Bedingungen medizinischer Versorgung
- die legalen und normativen Voraussetzungen der Entscheidung über den Behandlungsort
- Versicherungsökonomische und betriebswirtschaftliche Interessen
1. Die patientenseitigen Interessen und Bedarfe
Nicht allein die Art des Hilfe- und der fachgebundenen Interventionsbedarfe, sondern auch die lebenssituativen Bedingungen der Patientinnen und Patienten sind nach Alter, Geschlecht und vielfältigen sozialen Gegebenheiten erheblich variant. Sie lassen sich folglich nur bedingt entlang der Klassifikation der Krankheiten (ICD) oder im Falle der Einschränkung der funktionalen Gesundheit (ICF) standardisiert und legal normieren. Damit ist die Frage zu beantworten, wer die Entscheidung über eine ambulante versus stationäre Versorgung trifft und diese Entscheidungen ggf. prüft. Es sollte allgemein verständlich sein, dass nach ICD und ICF als gleich klassifizierte diagnostische, Krankheitsbegleitungs- und therapeutische Interventionsbedarfe nicht zwingend von als gleich zu normierenden Zuordnungen zu einer ambulanten oder stationären Versorgung führen können. Es ist auch schwer vorstellbar, die jeweilige Entscheidung ließe sich durch Klassifikationskonzepte oder auf eine wie auch immer geartete institutionalisierte Begutachtung übertragen. Dieser Zweifel ist auch – eventuell besonders nachdrücklich – zu äußern, wenn den Visionen einer digitalisierten und künstlicher Intelligenz übertragenen Zukunft vertraut wird.
Unterstellt, 80 % der notwendigen Hilfeleistungen würden in den letzten 3 bis 5 Lebensjahren erforderlich werden, wäre davon auszugehen, dass der Regelfall entsprechender Entscheidungsbedarfe alte und sehr alte Menschen betrifft. Es wird sich dann häufig um alleinlebende Personen handeln, die nach ambulanten medizinischen Interventionen auch ambulanter, vor allem aber zugehender medizinischer und krankenpflegerischer Hilfe bedürfen. Dies ist in gemeindeorientierten Settings, z.B. unter den Gegebenheiten einer Versorgung durch approbierte nicht-ärztliche Fachkräfte und einer systematisierten Leistungskultur der Substitution und Delegierung ärztlicher Leistungen durchaus realistisch, bedarf aber eines sozialmedizinischen Bildungskontextes, der – zumindest in Deutschland – auch mittelfristig kaum realisierbar ist.
2. Die versorgungsstrukturellen und -prozessualen Bedingungen
Eine Veränderung der Anteile von ambulant und stationär geleisteten medizinischen, rehabilitativen und krankenpflegerischen Leistungen ist an versorgungsstrukturelle und -prozessuale Voraussetzungen geknüpft. Sie betreffen die Notfall- wie auch die Regelversorgung. Im Notfall ist der Erstkontakt in der Regel ein Krankenhauskontakt. Ambulantisierung ist dann an die Voraussetzung gebunden, dass dem Krankenhaus die Möglichkeit der verantwortlichen ambulanten, also nicht stationären Versorgung übertragen ist. Das setzt dann die ggf. enge nachsorgende Kooperation mit den hausärztlichen und ambulanten rehabilitativen Versorgungsstrukturen voraus. Die strukturelle Trennung von Akutversorgung und rehabilitativer Nachsorge dürfte sich bei vielen Behandlungsanlässen als Hindernis erweisen, wenn deren institutionelle Integration, etwa im Sinne der „Integrated Delivery Systems“ nicht auch Teil des Strukturwandels ist. Allerdings wirft ein solcher Wandel dann auch komplexe kartellrechtliche Probleme auf.
Die sich derzeit vollziehende Entstehung von Großunternehmen der ambulanten Versorgung durch kapitalträchtige europaweit agierende Kapitalgesellschaften analog zur Krankenhausversorgung dürfte in diese Richtung wirken und analog zum Krankenhaus den angestellten Arzt oder alternativ die honorarärztliche Versorgung vorantreiben. Ein Aspekt ist dann vermutlich die strukturelle Neuaufstellung auch der stationären Rehabilitationseinrichtungen, auch als ambulante medizinische und rehabilitative Anbieter mit zunehmend wachsenden Spezialisierungsprofilen. Dieser heute nur zu vermutende Strukturwandel ist nahezu zwingend auf die strukturelle und prozessuale Integration angewiesen. Sie erzwingt monopolistische Strukturen, die entweder in öffentlich rechtlichen oder privatwirtschaftlichen Konstruktionen vorzuhalten sind. Es wird abzuwarten sein, wie die Entscheidungen hierzu ausfallen werden.
Die Ambulantisierung ist in jedem Falle an Voraussetzungen gebunden. Zu diesen Voraussetzungen gehören
- die Bereitschaft, Möglichkeit und Fähigkeit häuslicher Hilfeleistungen für kranke Personen,
- etablierte Angebote delegierter ärztlicher Leistungen sowie deren akzeptierte Substitution,
- die hinreichende professionelle Leistungsfähigkeit nicht hospitalisierte Behandlungen jeweils gemäß der vorfindlichen individuellen, städtischen und ländlichen Wohn- und Lebensmilieus,
- die Öffnung der Krankenhäuser, der Rehabilitationskliniken und der Pflegeeinrichtungen für nicht im Krankenhaus zu erbringende und ggf. auch mobil vorzuhaltende medizinische Leistungen,
- die Etablierung, bzw. erneute Etablierung eines Infrastrukturtyps der Krankenversorgung, der auch unter „ambulantisierten“ Versorgungsbedingungen kurzzeitige stationäre Aufenthalte absichern kann,
- die umfassende, öffentlich transparente und individualisierte Digitalisierung der Patienten-. Leistungs- und Ergebnisdaten der Anbieter medizinischer Leistungen,
- die Professionalisierung und Lizensierung nicht-ärztlicher Gesundheitsberufe, die auf der Basis von Delegations- und Substitutionskonzepten, also ggf. auch in eigener Verantwortung medizinische Leistungen anbieten.
3. Legale und normative Voraussetzungen
Nach geltender Rechtslage (§ 39 SGB V) haben gesetzlich Versicherte „Anspruch auf vollstationäre, stationsäquivalente oder tagesstationäre Behandlung, wenn die Aufnahme oder Behandlung im häuslichen Umfeld nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, bzw. weil das Behandlungsziel …“ anders nicht zu erreichen ist. Die Prüfung ist also den Krankenhäusern selbst übertragen. Mit diesem Rechtsgrundsatz sind die legalen Voraussetzungen des Grundsatzes ambulant vor stationär, einschließlich häuslicher Krankenpflege vollständig gegeben. Das ändert allerdings nichts daran, dass zweifelhaft ist, ob es auch ein voll umfängliches Interesse und eine realistische Möglichkeit der Krankenhäuser gibt, diese rechtliche Bedingung in jedem Einzelfall zu prüfen. Aus dieser Sicht ist das politische Ziel der Ambulantisierung die Durchsetzung der Rechtslage. Das gilt analog für die Rehabilitation und die häusliche Krankenpflege.
Es wird folgerichtig zu prüfen sein, ob die derzeit beiden Säulen ambulanter, also der hausärztlichen und der weitergehend spezialisierten fachärztlichen Versorgung auf eine quantitative, qualifikatorische und investive Ausweitung ihrer vertragsärztlichen Aufgaben vorbereitet sind, bzw. welche Voraussetzungen zu schaffen sind, diese zu ermöglichen.
Da eines der Ziele die der stationären Versorgungskapazitäten und damit deren Zentralisierung und Spezialisierung ist, wird die gesamte Krankenversorgung vor einer durchgreifenden Transformation seiner rechtlichen und regulativen Grundlagen stehen. Ein zentrales Argument ist die erhebliche quantitative Ausweitung nicht stationärer Behandlungen, deren Spezialisierung und neuerlich deren Konzentration in der Verantwortung einer abnehmenden Zahl von Anbietern. Das wird zwangsläufig auch erheblichen Einfluss auf die heute noch hausärztlichen und damit künftig auch substituier- und delegierbaren Angebote haben.
Die normative Klassifizierung ambulant substituierbarer Leistungen ist ein Schlüsselproblem der sog Ambulantisierung und ein gesundheitsökonomisches Forschungsfeld. Hierzu sollen Listen ambulant-sensitiver Krankenhausfälle (ASK) geschaffen werden. Die Autoren des Konzepts folgen der Annahme, dass die Notwendigkeit, bzw. Möglichkeit der ambulanten Substitution durch die Diagnose und nicht durch die individuell variierenden sozialen und familialen Bedingungen der Kranken bestimmt werden, die Gleichheit, bzw. Ungleichheit der Kranken also vollständig über die Diagnose abgebildet wird. Teil dieser Annahme ist die so geschaffene Möglichkeit, die Entscheidung, bzw. Prüfung vom Anbietermarkt auf den Käufermarkt zu übertragen. Im Besonderen beauftragte Ökonomen und Managementwissenschaftler arbeiten intensiv an solchen Konzepten. Dies ist die konsequente Weiterführung der Überführung der tradierten medizinischen Versorgung in eine Produktemedizin, wie sie aus der Einzelleistungsvergütung und der DRG-Vergütung bekannt ist.
4. Versicherungsökonomische und betriebswirtschaftliche Interessen
Es ist die allgemeine Erwartung, durch die Ambulantisierung der gesetzlichen Krankenversicherung Versorgungskosten zu sparen. Ob dies tatsächlich gelingen wird, ist fraglich. Versorgungskosten hängen primär weder von der Art der Krankheit noch vom Versorgungsort oder dem Einzelpreis ab. Sie sind mengenbestimmt. Durch eine Umverteilung von stationär zu ambulant vor allem aber unter den Perspektiven der prädiktiven Medizin ist eher von erheblichen Mengenausweitungen und weiteren Eingrenzungen erfolgreicher Mengenregulationen auszugehen. Die versicherungsökonomischen Interessen der Käufer, also der gesetzlichen Kassen und die betriebswirtschaftlichen Interessen und Zwänge der Anbieter sind regulatorisch kaum zu einen. Im Besonderen unter dem Druck marktwirtschaftlicher Zwänge werden nach allen Erfahrungen Kostenbegrenzungen kaum erreichbar werden.
Es gibt eine Vielzahl guter Gründe ambulante vor stationären Behandlungen zu präferieren und auf diese Weise die Gesamtheit der Bedarfe neu zu verteilen. Dies wird aber nichts daran ändern, dass der Druck auf Leistungsausweitungen vor allem im Gefolge des Absenkens der Normenschwellen medizinischer Interventionen und der medizinischen Begleitung chronisch Kranker eher wachsen wird. Vor allem aber die massive Ausweitung der diagnostischen Bedarfe, die schon heute überwiegend zu dem Ergebnis führen, dass es keiner medizinischen Intervention bedarf, aber dennoch ein entscheidender Kostentreiber ist.
Wirksame Interessenlagen haben in Deutschland eine erheblich überdimensionierte Krankenhauslandschaft erzeugt. Da der Bedarf an Krankenhausbetten nicht vorrangig von der Entscheidung über die Notwendigkeit einer stationären Versorgung, sondern von der Verweildauer abhängt, ist diese auch das Schlüsselargument jeder Bedarfsschätzung. Sie ist damit auch das wesentliche Argument in der Diskussion um die notwendige, bzw. mögliche Reduktion von Krankenhausbetten, die hier auf mindestens 150.000 geschätzt wird. Die Voraussetzung ist die kapazitive und die qualifikatorische Stärkung der ambulanten Versorgung. Aus schwer nachvollziehbaren Gründen wird diese praktisch ausschließlich unter dem Aspekt der Ausweitung ärztlicher Versorgungsangebote argumentiert. Die Substitution und Delegation derzeitiger ärztlicher Leistungen vor allem im hausärztlichen Bereich wird kaum reflektiert. Folgerichtig gibt es auch keine wahrnehmbaren Anstrengungen, hierfür strukturelle und qualifikatorische Voraussetzungen zu schaffen.
Herr Niehoff ist wissenschaftlicher Leiter der SalusCon Akademie. Er ist Facharzt und habilitierter Professor für Sozialmedizin und Epidemiologie.