Die Zaghaften nennen es eine Krankenhausreform, die Draufgänger eine Revolution. Für die Analytiker gesundheitspolitischer Entscheidungen ist es ein Teilprozess der Transformation des deutschen Systems der Krankenversorgung. Diese hat 1994 mit der Wirtschaftsliberalisierung der Krankenversorgung begonnen und sollte, so die damalige Erwartung der „Transformatiker“, etwa ab 2025 in ein anderes Versorgungs- und finanzielles Sicherungssystem führen. Die Transformation zielte auf die Überwindung von Systemmängeln des Bismarck’schen Konzepts sozialer Friedenssicherung mittels einer genossenschaftlichen Risikoabsicherung des individuellen Krankheitsfalls unter staatlicher Aufsicht.

Der zuständige Ressortminister, Karl Lauterbach erläutert die Systemmängel wie folgt:

  • „Das überholte System der Fallpauschalen wird beendet. Stattdessen bekommen notwendige Kliniken Vorhaltepauschalen. Das heißt sie bekommen eine Art Existenzgarantie, selbst wenn sie vergleichsweise wenige Behandlungen anbieten.
  • Somit bestimmt die Qualität und nicht mehr die Quantität die Versorgung. Durch das neue System der Vorhaltepauschalen erhalten Krankenhäuser die Chance, zu überleben. Patientinnen und Patienten können sich darauf verlassen, dass ihre Behandlung wirklich nötig ist und gut gemacht wird.
  • Patienten haben ein Recht darauf zu wissen, welches Krankenhaus welche Leistungen mit welcher Qualität anbietet. Die Transparenz-Offensive startet 2024.

Fest steht: Ohne Reform werden viele Krankenhäuser ungesteuert Insolvenz anmelden müssen. Mit der Reform bekommen Krankenhäuser wieder eine Perspektive.“ (Quelle: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/krankenhaus/krankenhausreform; abgerufen 17.05.2024)

Demnach gründet der Transformationsbedarf

  1. in der Fehlentscheidung über die umfassende Einführung einer fallpauschalierten Entgeltung der Versorgung im Krankenhaus,
  2. in der hieraus folgenden Mengen- zu Lasten einer Qualitätsorientierung,
  3. in der ungeregelten Insolvenzgefährdung vieler Krankenhäuser und deren Perspektivlosigkeit und
  4. in der fehlenden Freiheit der Patienten, ihr Krankenhaus nach persönlichen Qualitätspräferenzen zu wählen.

Die Feststellung, dass die fallpauschalierte Entgeltung von Krankenhausleistungen eine der wichtigen Ursachen von dringend zu korrigierenden Fehlentwicklungen ist, kommt spät. Dieses Wissen liegt mindestens seit der Veröffentlichung der Ergebnisse der WAMP-Studie unter Leitung von Dr. rer. pol. Bernard Braun und Prof. Dr. Rolf Rosenbrock aus den Jahren 2003-2010 vor. Die Autoren hatten gegen den Jubel der Überführung der Krankenhausversorgung in eine Produktemedizin keine wirkliche Chance der Wahrnehmung ihrer Ergebnisse durch die Protagonisten der DRG’s.

Das Argument einer unzureichenden Qualität der Krankenhausversorgung ist schwerwiegend. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (heute Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen genannt) hatte in seinem Gutachten 2000/2001 begründet, es gäbe Über-, Unter- und Fehlversorgungen. Neben der Zugänglichkeit sind dies immerhin die wichtigsten systemischen  Qualitätskriterien. Dieses Urteil schließt kritische und kaum beantwortete Fragen zur alters-, geschlechter-, regional- und sozialspezifischen Zugänglichkeit einer bedarfsgerechten Versorgung zwingend ein. Jenseits dieses Gutachtens ist hier die Analytik, zumal eine systematische, in Deutschland kaum entwickelt. Die W-Fragen, also wer, von wem bei welchen Indikationen und mit welchen Ergebnissen medizinische Hilfen bekommt, ist kein systematischer Forschungsgegenstand, bestenfalls Teil von skandalisierenden Berichterstattungen und kann bei dem derzeitigen Zustand der einschlägigen Forschungsträger auch kaum bearbeitet werden.

Aus analytischer Sicht ist die Zugänglichkeit medizinischer Hilfen eher ein Problem der ambulanten ( siehe auch „ Ambulantisierung„) als der Krankenhausversorgung. An Krankenhäuern fehlt es wahrlich nicht und in nennenswertem Umfang substituieren diese ambulante Versorgungsbedarfe. Die Gründe sind  vielfältig und hier nicht zu erörtern. Aber es steht eher das ambulante Versorgungsfundament als die Krankenhausversorgung vor Reform- und Modernisierungsbedarf. Die Stichworte sind Delegation und Substitution ärztlicher Leistungen sowie die Schaffung der hierzu qualifikatorischen Voraussetzungen seitens (möglichst approbierter) medizinisch fachkompetenter „ community health nursing“-Strukturen als integraler Bestandteil ambulanter Versorgung. Ohne eine tiefgreifende Reform der ambulanten kann es auch keine Krankenhausreform geben.

Die Frage nach den Zielen und den Umfängen von Prozessen, die interne und externe sowie vertikale und horizontale Arbeitsbeziehungen formalisieren, standardisieren und entpersonalisieren ist nicht zuletzt im Kontext der Digitalisierung und der Integration von Robotik und künstlicher Intelligenz auch in der medizinischen Versorgung von erheblicher Bedeutung. Die Konzentration von Entscheidungsmacht für finanzstarke Private Equity Fonds vom Schlage Tritons und Modelle wie Kaisers Permanente werden die Probleme verschärfen, nicht lösen, Wir werden eher eine Zunahme von Regelungszwängen (Bürokratisierung) und die Delegierung von Datenverwaltung und-pflege in die Hände von länderübergreifenden Fremdanbietern als eine „Entbürokratisierung“ erleben. Der Ruf unterschiedlichster Interessennehmer nach Deregulierung wird lauter und mächtiger werden.

Digitalisierung schafft den „gläsernen“ Patienten wie das gläserne medizinische Personal.  Der Sinn der Entbürokratisierung besteht also in der Reduktion von regulatorischen Handlungspflichten im Verhältnis der medizinischen Akteure zueinander und/oder in ihrem Verhältnis zu den legalen Finanzierungsträgern und der Datenverwertungsindustrie.

Der Hinweis auf den Erhalt notwendiger Krankenhausbetten und Krankenhäuser sowie deren Spezialisierung und folgerichtig auch deren Zentralisierung ist zweifellos ein Kernproblem der Transformation. Die Bettenbedarfsplanung steht zwangsläufig und wohl auch gewollt in einem nicht auflösbaren Widerspruch zum politischen Willen der Durchsetzungsfähigkeit von regional und überregional zentralisierten und gewinnwirtschaftlich erfolgreichen Großkrankenhäusern. Dieses Ziel steht der Bettenplanungshoheit der Bundesländer strikt entgegen. Die Frage, wieviele Krankenhausbetten ein Bundesland und in der Summe dann Deutschland braucht, kann nur über zwei konfligierende Wege beantwortet werden. Der eine Weg bestimmt diese Mengen (und deren Fachstruktur) über die eine Krankenhausversorgung rechtfertigende Indikation. Der andere Weg folgt der notwendigen Verweildauer. Beide Wege sind in nicht unerheblichem Maße auch von den lebenssituativen Bedingungen der Patientinnen und Patienten bestimmt, also auch von der Leistungsfähigkeit der sozialen Infrastrukturen in der Verantwortung der Kommunen, insbesondere auch von den Fähigkeiten, im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt eine fachkorrekte Nachsorge zu garantieren. Gelänge dies ließe sich die Verweildauer im Krankenhaus mehr als halbieren.   Dreh- und Angelpunkt des Wandlungsbedarfs ist folglich die Leistungsfähigkeit der ambulanten Versorgung und deren infrastrukturelle Voraussetzungen.

Von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind die Folgen der eingeleiteten allgemeinen Qualitätstransparenz der Krankenhausversorgung. Sie macht nur Sinn, wenn sie von einer allgemeinen freien Krankenhauswahl begleitet ist und der Wahlentscheidung eine qualifizierte Diagnostik, also die Trennung von Diagnostik und Therapie vorausgeht. Vor allem ist sie de facto das Ende der Kompetenz zur Krankenhausplanung der Bundesländer. Sie ist zudem mit nicht unerheblichen Geldtransfers der regionalisierten Krankenkassen hin zu jenen Bundesländern, in denen die spezialisierten und zentralisierten Krankenhäuser dann ihre Standorte finden, verbunden. Das sog. Transparenzgesetz ist also vor allem ein weiteres Element der Stärkung des Wirtschaftswettbewerbs in der Krankenversorgung gegen die Bedarfsorientierung.

 

Prof. Dr. med. habil. Jens-Uwe Niehoff

 

 

Herr Niehoff ist wissenschaftlicher Leiter der SalusCon Akademie. Er ist Facharzt und habilitierter Professor für Sozialmedizin und Epidemiologie.