Neuregelungen im Jahr 2017 im Bereich Gesundheit und Pflege
1. Zweites Pflegestärkungsgesetz (PSG II)
Mit dem am 01.01.2016 in Kraft getretenen Zweiten Pflegestärkungsgesetz schaffte der Gesetzgeber die rechtlichen Grundlagen für die Vorbereitung des neuen Begutachtungsverfahrens und der Umstellung auf Pflegegrade sowie neue Leistungsbeträge.
Die wichtigsten Regelungen ab 01.01.2017 sind:
- Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff schafft eine fachlich gesicherte und individuelle Begutachtung und Einstufung in Pflegegrade. Die Bedürfnisse von gesitig und seelisch beeinträchtigen Menschen werden bei der Begutachtung künftig in gleicher Weise berücksichtigt wie die der Pflegebedürftigen mit körperlichen Einschränkungen. Mit der neuen Begutachtungsmethode können die Beeinträchtigungen und die vorhandenen Fähigkeiten von Pflegebedürftigen genauer erfasst und die individuelle Pflegesituation in den fünf neuen Pflegegraden zielgenauer abgebildet werden. Viele Menschen werden mit dem Pflegegrad 1 erstmals Zugang zu Leistungen der Pflegeversicherung erhalten.
- Die rund 2,7 Mio. Pflegebedürftigen werden automatisch in einen Pflegegrad übergeleitet. Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen werden dabei von ihrer Pflegestufe in den nächst höheren Pflegegrad übergeleitet. Menschen mit einer dauerhaft erheblichen Einschränkung der Alltagskompetenz werden in den übernächsten Pflegegrad überführt. Alle, die bereits Pflegeleistungen beziehen, erhalten diese mindestens in gleichem Umfang weiter, die allermeisten erhalten mehr Unterstützung.
- Die neuen Leistungsbeträge bedeuten für viele Menschen höhere Leistungen. Insgesamt stehen ab Januar 2017 jährlich rund fünf Mrd. Euro zusätzlich für die Pflege zur Verfügung. Durch die gesetzlich vorgeschriebene Dynamisierung der Leistungen kommen weitere rund 1,2 Mrd. Euro für bessere Leistungen der Pflegeversicherung hinzu.
Die Hauptleistungsbeträge in Euro
*Hier keine Geldleistung, sondern eine zweckgebundene Kostenerstattung
- In jeder vollstationären Pflegeeinrichtung gilt nun ein einheitlicher pflegebedingter Eigenanteil für die Pflegegrade 2 bis 5. Der pflegebedingte Eigenanteil steigt nicht mehr mit zunehmender Pflegebedürftigkeit, sondern nur noch, wenn ein höherer Pflegesatz vereinbart wird. Zudem erhalten alle Pflegebedürftigen einen Rechtsanspruch auf zusätzliche Betreuungsangebote in voll- und teilstationären Pflegeeinrichtungen.
- Pflegerische Betreuungsmaßnahmen zur Bewältigung und Gestaltung des alltäglichen Lebens im häuslichen Umfeld werden Bestandteil der Sachleistung häusliche Pflegehilfe und damit eine Regelleistung der Pflegeversicherung.
- Der Beitragssatz der Sozialen Pflegeversicherung steigt um 0,2 Prozentpunkte auf 2,55% bzw. 2,8% für Kinderlose.
2. Drittes Pflegestärkungsgesetz (PSG III)
(abschließende Beratung Bundesrat steht noch aus)
Mit dem PSG III möchte der Gesetzgeber die Informationsangebote über die Leistungen der Pflegeversicherung für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sowie Menschen, die künftig Hilfe benötigen, verbessern. Dazu sollen die Pflegeberatung gestärkt und die Zusammenarbeit der Verantwortlichen in den Kommunen ausgebaut werden. Das Gesetz soll ein weiterer Baustein für eine bessere Bezahlung der Altenpflegekräfte sein. Außerdem werden die Kontrollmöglichkeiten ausgebaut, um Pflegebetrug wirksamer zu verhindern und Pflegebedürftige, ihre Angehörigen, aber auch die Versichertengemeinschaft besser davor zu schützen.
Die wichtigsten Regelungen des Gesetzes sind:
- Um das Netz der Beratungsstellen weiter auszubauen, erhalten Kommunen für die Dauer von fünf Jahren ein Initiativrecht zur Einrichtung von Pflegestützpunkten, wenn sie sich angemessen an den entstehenden Kosten beteiligen. Die Kommunen können künftig Beratungsgutscheine für eine Pflegeberatung einlösen und auf Wunsch auch Bezieher von Pflegegeld beraten.
- In bis zu 60 Landkreisen und kreisfreien Städten für die Dauer von fünf Jahren wird eine Beratung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen „aus einer Hand“ durch kommunale Beratungsstellen modellhaft erprobt. Für diese Modellvorhaben ist eine systematische Evaluation mit dem Schwerpunkt der Ergebnisqualität vorgesehen.
- Für Auf- und Ausbau von Angeboten zur Unterstützung und Entlastung Pflegebedürftiger und ihrer Angehörigen im Alltag stellt die Pflegeversicherung bis zu 25 Mio. Euro zur Verfügung, wenn Länder bzw. Kommunen den gleichen Förderbetrag aufbringen. Weitere 10 Mio. Euro werden zur Förderung kommunaler Netzwerke zur Unterstützung Pflegebedürftiger bereitgestellt. Auch hier müssen Länder und Kommunen den gleichen Förderbetrag aufbringen.
- Künftig können auch nicht-tarifgebundene Einrichtungen in den Pflegesatzverhandlungen mit den Kostenträgern einfacher Löhne bis zur Höhe des Tarifniveaus durchsetzen. Pflegekassen und Sozialhilfeträger müssen diese künftig grundsätzlich als wirtschaftlich anerkennen und entsprechend finanzieren. Die Kostenträger erhalten auf der anderen Seite ein Nachweisrecht, dass die verhandelten Löhne auch tatsächlich bei den Beschäftigten ankommen. Die Zahlung von tariflicher und kirchenarbeitsrechtlicher Entlohnung muss in Vergütungsverhandlungen bereits vollumfänglich berücksichtigt werden.
- Um Abrechnungsbetrug wirksamer zu verhindern, werden die Kontrollmöglichkeiten der Pflege- und Krankenkassen ausgeweitet: Die gesetzliche Krankenversicherung erhält ein systematisches Prüfrecht für Pflegedienste, die ausschließlich Leistungen der häuslichen Krankenpflege im Auftrag der Krankenkassen erbringen. In die Stichproben bei den Qualitätsprüfungen von Pflegediensten werden auch Personen einbezogen, die allein Leistungen der häuslichen Krankenpflege erhalten.
- Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff wird auch im Recht auf Hilfe zur Pflege nach dem Zwölften Sozialgesetzbuch (SGB XII) und im Bundesversorgungsgesetz (BVG) eingeführt. So können auch finanziell Bedürftige im Falle der Pflegebedürftigkeit angemessen versorgt werden.
- Die Kooperation der Pflegekassen mit den Trägern der Eingliederungshilfe wird im Interesse behinderter Menschen verbessert, wenn Leistungen der Pflegeversicherung und Leistungen der Eingliederungshilfe zusammentreffen.
- Im Ergotherapeuten-, Hebammen-, Logopäden- sowie im Masseur- und Physiotherapeutengesetz werden die vorhandenen Modellklauseln zur Erprobung einer Akademisierung dieser Berufe bis 2021 verlängert. Die Modellvorhaben werden evaluiert. Darüber hinaus wird eine rechtliche Grundlage geschaffen, um Leitlinien zur Überprüfung von Heilpraktikeranwärtern einzuführen. Dies wird die Qualität der Überprüfung erhöhen.
3. Viertes Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften
(abschließende Beratung Bundesrat steht noch aus)
Das Gesetz enthält eine Vielzahl von Einzelregelungen, die unterschiedliche Bereiche des Arzneimittelrechts betreffen.
Die wichtigsten Regelungen sind:
- Um Fehldiagnosen zu vermeiden, darf ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel grundsätzlich nur dann abgegeben werden, wenn die Verschreibung nach einem direkten Arzt-Patienten-Kontakt ausgestellt wurde.
- Die zuständigen Bundesoberbehörden können über die in Deutschland prinzipiell verfügbare Anzahl und Größe von freigegebenen Arzneimittelchargen informieren. Damit können die Ständige Impfkommission und die medizinischen Fachgesellschaften Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Liefer- oder Versorgungsengpässen etwa bei Impfstoffen vorbereiten.
- Zum Schutz vor gefälschten Arzneimitteln wird klargestellt, dass ein begründeter Verdacht auf Arzneimittelfälschungen ein Grund für einen möglichen Arzneimittelrückruf durch die Bundesoberbehörden ist.
- Im Heilmittelwerbegesetz wird klargestellt, dass aus Gründen der Patientensicherheit Teleshopping verboten ist.
- Die im Gesetz enthaltenen Anpassungen im Arzneimittelgesetz (AMG), die die EU-Verordnung Nr. 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln (gruppennützige Studien an nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen) betreffen, treten erst im Laufe des Jahres 2018 in Kraft.
4. Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen (PsychVVG)
(Ausfertigung und Verkündung stehen noch aus)
Durch das PsychVVG wird das Vergütungssystem für psychiatrische und psychosomatische Leistungen angepasst: Behandlungen mit hohem Aufwand sollen künftig besser vergütet werden als weniger aufwändige. Mit Mindestpersonalvorgaben soll die menschliche Zuwendung gestärkt werden. Außerdem sollen ambulante und stationäre Leistungen enger verzahnt, um die Versorgung der Patienten zu verbessern.
Die wichtigsten Regelungen sind:
- Die Ausgestaltung des Entgeltsystems erfolgt als Budgetsystem. Psychiatrische und psychosomatische Kliniken können ihr Budget individuell verhandeln und dabei vorhandene regionale oder strukturelle Besonderheiten in der Leistungserbringung berücksichtigen.
- Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) wird mit der Festlegung verbindlicher Mindestvorgaben zur Personalausstattung beauftragt, die in den Einrichtungen zu einer leitliniengerechten Behandlung beitragen sollen. Die Einrichtungen müssen Nachweise über die Stellenbesetzung führen.
- Die Versorgung der Patienten wird mit einer stationsäquivalenten psychiatrischen Behandlung im häuslichen Umfeld („home treatment“) als Krankenhausleistung weiter gestärkt. Dabei können ambulante Leistungserbringer einbezogen werden.
- Für Modellvorhaben zur Behandlung von Patienten mit pädophilen Sexualstörungen stellt der GKV-Spitzenverband fünf Mio. Euro je Kalenderjahr zur Verfügung. Das Vorhaben wird wissenschaftlich begleitet und ausgewertet.
- Die Höhe des Abschlags für Kostenvorteile, die bei der Erbringung zusätzlicher Leistungen entstehen (sog. Fixkostendegressionsabschlag), wird für die Anfangsjahre 2017 und 2018 gesetzlich festgelegt. Zudem wird für diese Jahre eine Obergrenze für den in bestimmten Fällen auf der Ortsebene zu vereinbarenden höheren Fixkostendegressionsabschlag vorgegeben.
- Bei der Ermittlung des hausbezogenen Pflegezuschlags, der 2017 erstmals ausgezahlt wird, wird auch Pflegepersonal berücksichtigt, das ohne direktes Beschäftigungsverhältnis in den Krankenhäusern tätig ist.
- Aus der Liquiditätsreserve werden dem Gesundheitsfonds 1,5 Mrd. Euro zugeführt.
5. Durchschnittlicher Zusatzbeitragssatz
Der vom BMG festgesetzte durchschnittliche Zusatzbeitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für das Jahr 2017 bleibt stabil und liegt weiterhin bei 1,1%.
Seine Höhe wird jährlich aus der Differenz der vom Schätzerkreis prognostizierten Einnahmen und Ausgaben der GKV im kommenden Jahr errechnet. Wie hoch der individuelle Zusatzbeitragssatz einer Krankenkasse für ihre Mitglieder tatsächlich ausfällt, legt die jeweilige Krankenkasse selbst fest. Er richtet sich unter anderem danach, wie wirtschaftlich eine Krankenkasse arbeitet, über welche Finanzreserven sie verfügt und welche weiteren Leistungen sie anbietet. Erhöht eine Krankenkasse ihren kassenindividuellen Zusatzbeitrag, haben die Mitglieder ein Sonderkündigungsrecht und können in eine andere Krankenkasse wechseln. Eine Übersicht über die jeweils aktuelle Höhe der kassenindividuellen Zusatzbeiträge ist auf der Seite des GKV-Spitzenverbandes abrufbar.
6. Die Zweite Verordnung zur Änderung medizinprodukterechtlicher Vorschriften
Zur weiteren Verbesserung der Patienten- und Anwendersicherheit ist die Medizinprodukte-Betreiberverordnung grundlegend überarbeitet worden. In der Medizinprodukte-Verordnung und in der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung werden wichtige Vorschriften neu gefasst.
Die wichtigsten Änderungen sind:
- Damit größere Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäuser und große Arztpraxen bei akuten Vorfällen einen zentralen Ansprechpartner für Behörden und Unternehmen haben, müssen Gesundheitseinrichtungen mit mehr als 20 Beschäftigten einen Beauftragten für Medizinproduktesicherheit bestimmen. Dieser ist für die interne Zuordnung von Risikomeldungen und Umsetzung korrektiver Maßnahmen zuständig.
- Es wird festgelegt, wer für die Einhaltung der Vorschriften der Medizinproduktebetreiberverordnung verantwortlich ist, dazu wird der Begriff des Betreibers definiert. Bei der Versorgung mit Medizinprodukten im häuslichen und privaten Umfeld müssen gesetzliche Kranken- und Pflegekassen oder private Krankenversicherungen die Pflichten eines Betreibers wahrnehmen und z.B. für die Einhaltung von sicherheitstechnischen Kontrollen und regelmäßigen Wartungsarbeiten sorgen. Sie können diese Aufgaben auch z.B. an Sanitätshäuser übertragen.
7. Regionalisierung der Wirtschaftlichkeitsprüfung der Versorgung mit ärztlich verordneten Leistungen
Mit dem Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-VSG) wurden die Regelungen zu den Wirtschaftlichkeitsprüfungen neu strukturiert, damit regionale Gegebenheiten stärker als bisher berücksichtigt werden können. Ab 2017 wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung mit ärztlich verordneten Leistungen grundsätzlich anhand von Vereinbarungen der Selbstverwaltungspartner auf Landesebene geprüft.
8. Gesetz zur Umsetzung der Richtlinien (EU) 2015/566 und (EU) 2015/565 zur Einfuhr und zur Kodierung menschlicher Gewebe und Gewebezubereitungen
Das Gesetz ist ein Beitrag zur Verbesserung der Sicherheit von menschlichen Gewebezubereitungen für Patientinnen und Patienten.
- Mit der Einfuhr-Richtlinie werden technische Verfahrensvorschriften für die Einfuhr menschlicher Gewebe und Zellen in die Europäische Union geschaffen.
- Ziel der Kodierungs-Richtlinie ist die Schaffung eines verpflichtenden Einheitlichen Europäischen Codes, um die Rückverfolgbarkeit vom Spender zum Empfänger und umgekehrt in den Mitgliedstaaten bzw. in der Europäischen Union zu erleichtern. Dafür steht eine öffentlich zugängliche EU-Kodierungsplattform zur Verfügung.
9. Rechengrößen für die gesetzliche Krankenversicherung und die soziale Pflegeversicherung
- Die Jahresarbeitsentgeltgrenze (Versicherungspflichtgrenze) der GKV steigt auf jährlich 57.600 Euro (2016: 56.250 Euro).
- Die Beitragsbemessungsgrenze der GKV steigt auf jährlich 52.200 Euro (2016: 50.850 Euro) bzw. auf monatlich 4.350 Euro (2016: 4.237,50 Euro).
- Die Bezugsgröße, die für viele Werte in der Sozialversicherung wichtig ist, etwa für die Festsetzung der Mindestbeitragsbemessungsgrundlagen für freiwillige Mitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung, erhöht sich auf 2.975 Euro monatlich in den alten Bundesländern und auf 2.660 Euro in den neuen Bundesländern. (2016: 2.905 Euro/2.520 Euro).
Quelle: Meldung des BMG vom 15.12.216
Entscheidungen Bundesfinanzhof
Bundesfinanzhof bestätigt Beschränkung der Umsatzsteuerbefreiung für Sozialversicherungsträger im Reha-Bereich
Eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, die als gesetzlicher Träger der Sozialversicherung im Rahmen der von ihr betriebenen Rehabilitationskliniken ohne medizinische Notwendigkeit Begleitpersonen von Patienten gegen privatrechtlich vereinbartes gesondertes Entgelt unterbringt und verpflegt sowie an ihre Mitarbeiter entgeltliche Verpflegungsleistungen erbringt, ist insoweit unternehmerisch tätig und führt steuerbare und steuerpflichtige Umsätze aus, wenn die genannten Leistungen für die Tätigkeiten in den Rehabilitationskliniken nicht unerlässlich sind oder dazu bestimmt sind, den Rehabilitationskliniken zusätzliche Einnahmen zu verschaffen.
Quelle: BFH, Urteil v. 16.12.2015 – XI R 52/13
Rechtsprechung Sozialrecht
1. Keine Herabsetzung einer Verletztenrente wegen neuer prothetischer Versorgung eines Unfallverletzten
Das BSG hat entschieden, dass eine Verletztenrente der gesetzlichen Unfallversicherung nicht allein deshalb herabgesetzt werden kann, weil der durch den Arbeitsunfall Verletzte eine neue mikroprozessorgesteuerte Beinprothese erhalten hat.
Der Kläger erlitt als Schüler im Jahre 1998 einen Unfall, der zur Amputation des linken Beines im Bereich des Oberschenkels führte. Er wurde von dem Unfallversicherungsträger mit einer Prothese versorgt. Dieser bewilligte zunächst eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit i.H.v. 70 vom Hundert. Im März 2006 erhielt der Kläger anstelle der bisherigen Prothese eine mikroprozessorgesteuerte Oberschenkelprothese (sog. C-Leg). Der beklagte Unfallversicherungsträger hob daraufhin den ursprünglichen Rentenbewilligungsbescheid wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse teilweise auf und gewährte nur noch eine geringere Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 60 vom Hundert. Durch die Versorgung mit der C-Leg-Prothese sei eine deutliche Funktionsverbesserung des linken Beines eingetreten.
In den Vorinstanzen hatte der Kläger Erfolg.
Das BSG hat die Revision des beklagten Unfallversicherungsträgers zurückgewiesen und entschieden, dass die von dem Landessozialgericht herangezogene MdE-Tabelle, die aktuell keine Differenzierung nach der Qualität der jeweiligen Oberschenkelprothese vornimmt, nicht zu beanstanden ist.
Nach Auffassung des BSG lagen die Voraussetzungen für die Herabsetzung der bisher gewährten Verletztenrente nicht vor, weil durch die Versorgung mit einer mikroprozessorgesteuerten Oberschenkelprothese keine wesentliche, zu einer niedrigeren Rente führende Änderung eingetreten ist. In der gesetzlichen Unfallversicherung würden die dauerhaften gesundheitlichen Beeinträchtigungen aufgrund eines anerkannten Arbeitsunfalls unter anderem mit einer Verletztenrente ausgeglichen. Die Höhe der Verletztenrente ergebe sich aus den Berechnungsfaktoren Jahresarbeitsverdienst und Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE). Die Minderung der Erwerbsfähigkeit werde in der Praxis von medizinischen Sachverständigen anhand sog. MdE-Tabellen eingeschätzt. Grundsätzlich sei das BSG als Revisionsgericht bei der Überprüfung der MdE-Höhe an die tatsächlichen Feststellungen des Landessozialgerichts gebunden. Die Prothese bewirke aber nach den tatsächlichen Feststellungen des Landessozialgerichts gerade keine entscheidende Verbesserung der Erwerbsfähigkeit. Das BSG hätte deshalb aus eigener Kompetenz nur dann eine geringere Minderung der Erwerbsfähigkeit zugrunde legen können, wenn es zu der Überzeugung gelangt wäre, die als medizinische Erfahrungssätze herangezogenen MdE-Tabellenwerte seien wissenschaftlich nicht mehr haltbar beziehungsweise entsprächen nicht dem aktuellen Erkenntnisstand. Die vom Landessozialgericht berücksichtigte MdE-Tabelle sehe für einen Verlust des Oberschenkels im mittleren und unteren Drittel den Wert von 60 vom Hundert vor. Eine generelle Änderung dieses Tabellenwertes sei bisher nicht erfolgt. Nach der wohl überwiegenden Auffassung der unfallmedizinischen Literatur sei vielmehr nicht zusätzlich nach der Qualität der Prothese zu differenzieren. Zwar gebe es in der medizinischen Literatur eine Diskussion, nach der die MdE-Tabellenwerte bei besserer prothetischer Versorgung niedriger anzusetzen seien. Hieraus könne jedoch nicht geschlossen werden, dass der aktuell geltende MdE-Tabellenwert als wissenschaftlich unhaltbar von der Rechtsprechung zu korrigieren wäre.
Quelle: Pressemitteilung des BSG Nr. 28/2016 v. 20.12.2016
2. Nur Gericht entscheidet über Glaubhaftigkeit der Angaben eines Gewaltopfers
Das BSG hat entschieden, dass nur das Gericht selbst und nicht ein von ihm gehörter aussagepsychologischer Sachverständiger entscheidet, ob Angaben eines Gewaltopfers zur Tat relativ wahrscheinlicher sind als die Annahme, das von ihm Geschilderte habe so nicht stattgefunden.
Die Klägerin macht geltend, im September 1989 durch Folter und sexuellen Missbrauch im Kaßberg-Gefängnis in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) Opfer einer Gewalttat geworden zu sein. Zehn Jahre später beantragte sie wegen derselben Tat eine Beschädigtenversorgung nach Opferentschädigungsrecht. Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen ihren früheren Vorgesetzten, den sie als einen der Täter benannt hatte, war zuvor bereits mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden. Das Versorgungsamt Chemnitz lehnte den Entschädigungsantrag der Klägerin unter Hinweis auf den Verlauf des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens ab.
Das Sozialgericht hatte eine psychiatrische und zwei aussagepsychologische Begutachtungen der Klägerin veranlasst. Letztere kamen zu dem Ergebnis, dass die Angaben der Klägerin mit Hilfe der aussagepsychologischen Methodik nicht verifiziert werden könnten. Es bestünden Hinweise auf fremd- und autosuggestive Einflüsse der Aussagen der Klägerin bzw. auf intentionale Täuschung. Im Berufungsverfahren hatte das Landessozialgericht zwei weitere aussagepsychologische Gutachten aus anderen Verfahren in den Rechtsstreit eingeführt. Diese kamen zu der grundsätzlichen Erkenntnis, dass aussagepsychologische Begutachtungen ausschließlich der Substantiierung des Erlebnisbezugs und der Zuverlässigkeit einer Aussage dienten, nicht hingegen auf die Erlangung (inhaltlich) zutreffender Aussagen nach juristischen Beweismaßstäben ausgerichtet seien. Dies sei allein Sache der Wahrheitsfindung im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung. Die Klage blieb in erster und zweiter Instanz erfolglos. Die Klägerin habe einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff nicht nachgewiesen, auch nicht unter Zugrundelegung der besonderen Beweiserleichterungen des sozialen Entschädigungsrechts, welche ein Glaubhafterscheinen der Angaben des Gewaltopfers im Sinne einer guten Möglichkeit anstelle der sonst nötigen Wahrscheinlichkeit oder gar des erforderlichen Vollbeweises ausreichen lasse. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Revision. Das Landessozialgericht habe seine Entscheidung auf Gutachten gestützt, die den Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung an sogenannte Glaubhaftigkeitsgutachten nicht genügten, weil sie ohne vorherigen Hinweis des Sachverständigen auf den abgesenkten Beweismaßstab des § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) ergangen und deshalb nicht verwertbar seien. Das Landessozialgericht habe deshalb den Beweismaßstab der Glaubhaftmachung verkannt.
Die Klage hatte vor dem BSG keinen Erfolg.
Nach Auffassung des BSG hat das Landessozialgericht entgegen den bisherigen Vorgaben des 9. Senats des BSG davon abgesehen, ein weiteres, drittes aussagepsychologisches Gutachten über die Frage einzuholen, ob die Angaben der Klägerin zu der von ihr behaupteten Gewalttat als „in hohem Maße wahrscheinlich glaubhaft“ oder „mit relativer Wahrscheinlichkeit glaubhaft“ zu beurteilen seien, sondern dies selbst beurteilt. Die Angaben der Klägerin erschienen danach als nicht ausreichend glaubhaft. Ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff sei nicht nachgewiesen, auch nicht unter Zugrundelegung der besonderen Beweiserleichterungen des sozialen Entschädigungsrechts. Diese ließen insoweit eine gute Möglichkeit ausreichen, dass die Angaben des Opfers zutreffen. Seinen Verzicht auf ein weiteres Gutachten habe das Landessozialgericht auf grundsätzliche methodische Erkenntnisse aus weiteren ins Verfahren eingeführter Gutachten gestützt. Danach dienen aussagepsychologische Begutachtungen ausschließlich der Substantiierung des Erlebnisbezugs und der Zuverlässigkeit einer Aussage, nicht hingegen der Erlangung (inhaltlich) zutreffender Aussagen nach juristischen Beweismaßstäben.
Das BSG hat dieses Vorgehen gebilligt: Ein aussagepsychologisches Gutachten sei im sozialen Entschädigungsrecht zulässig und könne für die Rechtsfindung nützlich sein. Allerdings obliege die anschließend umfassende rechtliche Würdigung der vom Sachverständigen bereit gestellten Feststellungen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen allein dem Gericht.
Quelle: Pressemitteilung des BSG Nr. 27/2016 v. 15.12.2016
3. Übernahme der Kosten eines Schulbegleiters für Kind mit Down-Syndrom
Das BSG hat entschieden, dass der zuständige Sozialhilfeträger unter bestimmten Voraussetzungen im Rahmen der Eingliederungshilfe die Kosten eines Schulbegleiters für ein Kind mit Down-Syndrom zu übernehmen hat.
Die im Jahre 2002 geborene Klägerin, die aufgrund ihrer Behinderung an einer Sprach-, einer motorischen Entwicklungs- und einer Kommunikationsstörung sowie einer Schwäche der Feinmotorik leidet (anerkannter Grad der Behinderung von 100; Merkzeichen „G“ und „H“) besuchte im Schuljahr 2012/2013 mit Billigung des zuständigen Schulamtes die erste Grundschulklasse einer Regelschule. Dort wurde sie gemeinsam mit nicht behinderten Kindern unter Einschaltung einer Kooperationslehrerin sowie eines Schulbegleiters unterrichtet. Den zuvor gestellten Antrag auf Übernahme der Kosten für den Schulbegleiter hat der beklagte Landkreis abgelehnt; er wurde im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, vorläufig die angefallenen Kosten (18.236,30 Euro) zu übernehmen.
Die Klage im Hauptverfahren hatte in beiden Instanzen Erfolg. Zur Begründung seiner Entscheidung hatte das Landessozialgericht ausgeführt, außerhalb des Kernbereichs der pädagogischen Tätigkeit, der vorliegend nicht tangiert sei, soweit es die Arbeit des Schulbegleiters betreffe, müsse der Beklagte die Kosten für unterstützende Hilfen übernehmen. Hiergegen wandte sich der Beklagte mit der Revision.
Das BSG hat entschieden, dass der Sozialhilfeträger im Rahmen der Eingliederungshilfe die Kosten für einen Schulbegleiter zu übernehmen hat.
Nach Auffassung des BSG hat eine Kostenübernahme zu erfolgen, wenn ein wesentlich geistig behindertes Kind aufgrund der Behinderung ohne Unterstützung durch einen solchen Begleiter die für das Kind individuell und auf seine Fähigkeiten und Fertigkeiten abgestimmten Lerninhalte ohne zusätzliche Unterstützung nicht verarbeiten und umsetzen kann. Insoweit handele es sich nicht um den Kernbereich allgemeiner Schuldbildung, für den allein die Schulbehörden die Leistungszuständigkeit besitzen. Im Rahmen des Nachrangs der Sozialhilfe sei lediglich Voraussetzung, dass eine notwendige Schulbegleitung tatsächlich nicht von diesen übernommen bzw. getragen werde.
Quelle: Pressemitteilungen des BSG Nr. 25/2016 v. 09.12.2016
4. Gewaltopfer hat keinen Anspruch auf Assistenzhund
Das LSG Mainz hat entschieden, dass eine aufgrund sexueller Angriffe im Jugendalter an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidende Frau keinen Anspruch auf einen Assistenzhund nach dem Opferentschädigungsgesetz hat.
Bei der 1969 geborenen Klägerin ist als Schädigungsfolge nach dem Opferentschädigungsgesetz eine „sonstige Reaktion auf schwere Belastung in Form psychoreaktiver Störung“ festgestellt. Sie kaufte im Januar 2014 einen Flatdoodle zu einem Preis von rund 2.000 Euro netto, der sodann eine Spezialausbildung zu einem Preis von ca. 1.000 Euro erhalten sollte. Durch die Spezialausbildung sollte der Hund eigens für posttraumatische Belastungsstörungen sensibilisiert werden und aufgrund der ihm vermittelten besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten dissoziative Momente durchbrechen, das emotionale Befinden stabilisieren und die Verankerung in der Gegenwart fördern können. Als emotionaler Schutz und Sicherheit im Alltag sollte er dazu beitragen, ihren ausgeprägten sozialen Rückzugstendenzen entgegenzuwirken. Der Antrag der Klägerin auf Erstattung der aufgewandten Kosten wurde abgelehnt; der Widerspruch hatte keinen Erfolg.
Auf die hiergegen erhobene Klage hatte das SG Mainz den beklagten Freistaat Bayern verurteilt, die Kosten für den Assistenzhund zu erstatten. Die Klägerin habe Anspruch auf die Versorgung mit dem Hund als Hilfsmittel, da sie aus medizinischen Gründen hierauf angewiesen sei. Als Hilfsmittel komme auch der Assistenzhund, nicht nur ein Blindenführhund in Betracht.
Das LSG Mainz hat auf die Berufung des Freistaats Bayern das Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Nach Auffassung des Landessozialgerichts hat die Klägerin zwar grundsätzlich einen Anspruch auf die Versorgung mit Hilfsmitteln. Die Anspruchsvoraussetzungen seien jedoch im Einzelfall nicht erfüllt. Insbesondere diene der Hund vorliegend nicht der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung. Bei der Traumatherapie mit einem Assistenzhund handele es sich um eine sog. neue Behandlungsmethode. Sei das Hilfsmittel untrennbar mit einer solchen speziellen Behandlungsmethode verbunden, müsse die neue Behandlungsmethode durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) anerkannt werden. Dieser nehme eine Prüfung der Risiken und des diagnostischen sowie therapeutischen Nutzens vor. Eine Empfehlung durch den GBA liege mit Blick auf die Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen unter Einsatz von Assistenzhunden indes nicht vor. Der Hund könne vorliegend auch nicht unter dem Aspekt des mittelbaren Behinderungsausgleichs beansprucht werden. Dies sei nur dann der Fall, wenn durch den Hund ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens befriedigt werde, etwa die Mobilität im Nahbereich der Wohnung ermöglicht werde. Die Klägerin könne diesen Bereich aber auch ohne den Hund aufsuchen. Das Ergebnis, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten habe, sei auch nicht unter Berücksichtigung von Art. 20 der UN-Behindertenkonvention zu korrigieren. Dieser lasse sich zum einen ein konkreter Anspruch nicht entnehmen, zum anderen laufe das vorliegende Ergebnis der Wertung der UN-Behindertenkonvention nicht zuwider. Diese verlange nicht, dass Versicherte ungeprüften Risiken und Nutzen auszusetzen wären.
Quelle: Pressemitteilung des LSG Mainz Nr. 22/2016 v. 17.11.2016
Rechtsprechung Verfassungsrecht
1. Keine landesbezogene Zuständigkeit des Medizinischen Dienstes
Das Grundgesetz schreibt eine örtliche Begrenzung der Prüfungskompetenz des Medizinischen Dienstes nicht vor, wenn dieser auf Grundlage von §§ 275, 276 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) tätig wird. Dies hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden und eine Verfassungsbeschwerde gegen die länderübergreifende Beauftragung des Medizinischen Dienstes nicht zur Entscheidung angenommen.
Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin betreibt ein Krankenhaus in Nordrhein-Westfalen. Sie war im Ausgangsverfahren verurteilt worden, Behandlungsunterlagen eines Patienten, der bei einer Betriebskrankenkasse mit Sitz in Nordrhein-Westfalen versichert war, an den Medizinischen Dienst in Rheinland-Pfalz herauszugeben. Hiergegen wandte die Beschwerdeführerin ein, dass für alle Prüfaufgaben, die dem Medizinischen Dienst in § 275 SGB V zugewiesen seien, keine länderübergreifende Beauftragung erfolgen könne. Das Bundessozialgericht hat eine örtliche Begrenzung der Prüfungskompetenz des Medizinischen Dienstes letztlich verneint. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaats- und Bundesstaatsprinzip.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
1. Soweit die Beschwerdeführerin rügt, sie sei in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit verletzt, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Zur Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gehört die schlüssige Behauptung des Beschwerdeführers, dass er selbst, gegenwärtig und unmittelbar durch die öffentliche Gewalt in seinen grundrechtlich geschützten Positionen verletzt sei. Die Beschwerdeführerin beruft sich auf eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ihrer Patienten (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) und macht insoweit im Ergebnis nicht eigene Grundrechte, sondern solche ihrer Patienten geltend.
2. Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde auch im Hinblick auf die Rüge einer Verletzung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG). Aus dem Vortrag der Beschwerdeführerin ergibt sich keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung durch den Einsatz überörtlicher Medizinischer Dienste. Ein konkreter individueller Nachteil für die Beschwerdeführerin ist nicht erkennbar.
3. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet. Das angegriffene Urteil des Bundessozialgerichts verletzt die Beschwerdeführerin nicht in ihren Grundrechten. Das Bundessozialgericht hat in nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass weder Wortlaut noch Systematik, Entstehungsgeschichte und Zielsetzung des § 276 Abs. 2 SGB V Anhaltspunkte für die Annahme böten, dass die dem Medizinischen Dienst zugewiesenen Aufgaben ausschließlich nach räumlichen Wirkungskreisen wahrzunehmen seien. Die von der Beschwerdeführerin begehrte einschränkende Auslegung ist auch verfassungsrechtlich nicht geboten. Art. 87 Abs. 2 GG räumt dem Gesetzgeber für die Organisation und das Verfahren der Krankenversicherung einen großen Spielraum ein. Die Organisationsbefugnis des Bundes berechtigt ihn auch, Verbindungen zwischen Sozialversicherungsträgern herzustellen oder länderüberschreitende Leistungsbeziehungen zu regeln. Ein verfassungsrechtliches Verbot bundesgesetzlicher Regelung länderübergreifenden Zusammenwirkens in der Krankenversicherung besteht nicht.
Quelle: Pressemitteilung des BVerfG Nr. 96/2016 v. 15.12.2016
2. Mindestmengenregelung von jährlich 14 „Level-1-Geburten“ in Perinatalzentren rechtmäßig
Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen die Einführung einer Mindestmenge von Versorgungsfällen bei der Krankenhausbehandlung von Früh- und Neugeborenen mit höchstem Risiko als Mittel der Qualitätssicherung wendet. Die klagenden Betreiber von Krankenhäusern, die eine Verbesserung der Versorgungsqualität durch die Neuregelung in Frage stellen, haben nicht hinreichend konkret dargetan, dass sie beschwerdebefugt sind.
Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer sind Betreiber von Krankenhäusern mit sogenannten Level-1-Perinatalzentren, die teils in kirchlicher, teils in kommunaler Trägerschaft stehen. Allein Krankenhäuser mit Perinatalzentren des Level 1 sind nach einem vom Gemeinsamen Bundesausschuss vorgesehenen Konzept für die Krankenhausbehandlung von Früh- und Neugeborenen mit höchstem Risiko zuständig (insbesondere für Frühgeborene mit einem geschätzten Geburtsgewicht von unter 1250 Gramm oder einem Alter von weniger als der 29. Schwangerschaftswoche). Zur Qualitätssicherung bei der Krankenhausbehandlung kann der Gemeinsame Bundesausschuss im Beschlusswege für zugelassene Krankenhäuser unmittelbar verbindliche Regelungen erlassen. Im Jahr 2010 legte der Gemeinsame Bundesausschuss für Level-1-Zentren eine verbindliche Mindestmenge von 14 Level-1-Geburten pro Jahr fest. Wird die festgelegte Mindestmenge voraussichtlich nicht erreicht, dürfen die Krankenhäuser entsprechende Leistungen nicht bewirken. Tun sie es dennoch, steht ihnen kein Vergütungsanspruch zu.
Die Beschwerdeführer erhoben daraufhin erfolglos Klage gegen die Einführung der Mindestmenge. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen sie insbesondere die Verletzung der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) sowie des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.
1. Die Beschwerdeführer haben, soweit es nicht um den behaupteten Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter geht, nicht hinreichend konkret dargetan, dass sie beschwerdebefugt sind.
a) Für die Beschwerdeführer in kommunaler Trägerschaft ergibt sich die fehlende Beschwerdebefugnis bereits daraus, dass sie sich überwiegend in öffentlicher Hand befinden und daher nicht grundrechtsfähig sind. Vor allem aber ist nicht hinreichend dargetan, dass die Beschwerdeführer durch die Festsetzung der Mindestmenge von jährlich 14 Level-1-Geburten gegenwärtig in ihren materiellen Grundrechten verletzt sein könnten. Zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gehört, dass die Beschwerdeführer ihre gegenwärtige und unmittelbare Betroffenheit in eigenen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten ausreichend darlegen. Gegenwärtig ist die Betroffenheit, wenn die angegriffene Vorschrift auf die Rechtsstellung der Beschwerdeführer aktuell und nicht nur virtuell einwirkt, wenn die Norm ihre Adressaten mit Blick auf ihre künftig eintretenden Wirkungen zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen zwingt oder wenn klar abzusehen ist, dass und wie die Beschwerdeführer in der Zukunft von der Regelung betroffen sein werden. Allein die vage Aussicht, dass einer der Beschwerdeführer irgendwann einmal in Zukunft von der Norm und ihren Auswirkungen betroffen sein könnte, genügt hingegen nicht.
b) Diesen Maßstäben wird die Begründung der Verfassungsbeschwerde nicht gerecht. Nachdem die Beschwerdeführer nicht geltend gemacht haben, dass sie durch die Mindestmengenfestsetzung bislang einen konkreten Nachteil erlitten hätten, hätten sie substantiiert darlegen müssen, dass auf Grund der Zahl der von ihnen betreuten Level-1-Geburten und deren Entwicklung absehbar ist, dass sie von der angegriffenen Regelung nachteilig betroffen sein werden. Das ist der Begründung der Verfassungsbeschwerde nicht zu entnehmen. Alle beschwerdeführenden Kliniken in kirchlicher Trägerschaft weisen sogar Fallzahlen von im Schnitt über 20 Level-1-Geburten jährlich aus, so dass jedenfalls für diese Beschwerdeführer in Ermangelung näherer Darlegungen nicht nachvollziehbar ist, ob und welcher Beschwerdeführer ein Absinken der Level-1-Geburten auf unter 14 pro Jahr konkret zu befürchten hätte. Zudem fehlt es an einer Auseinandersetzung mit dem Gesichtspunkt, dass die für die Krankenhausplanung zuständigen Landesbehörden Leistungen bestimmen können, bei denen die Anwendung der Mindestmengenregelung die Sicherstellung der Versorgung gefährden könnte, und dass sie auf dieser Grundlage das Erbringungsverbot und den Wegfall des Vergütungsanspruchs für nicht anwendbar erklären können. Schließlich geht die Verfassungsbeschwerde nicht darauf ein, dass zwischenzeitlich ausdrücklich vorgesehen ist, dass der Gemeinsame Bundesausschuss bei den Mindestmengenfestlegungen Ausnahmetatbestände und Übergangsregelungen vorsehen soll, um unbillige Härten insbesondere bei nachgewiesener, hoher Qualität unterhalb der festgelegten Mindestmenge zu vermeiden. Eine Auseinandersetzung mit dieser Neuregelung wäre notwendig gewesen; dies gilt umso mehr, als die bisherige, nunmehr aber in nicht unerheblichem Maße zu Gunsten der Krankenhäuser geänderte Rechtslage offenbar nicht zu konkret nachteiligen Folgen für die Beschwerdeführer geführt hat. Nach allem ist eine Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Argumenten der Beschwerdeführer, vor allem mit den durchaus gewichtigen Zweifeln an der demokratischen Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses als Institution nicht veranlasst.
2. Eine Verletzung im grundrechtsgleichen Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) durch die angegriffenen Entscheidungen ist ebenfalls nicht hinreichend substantiiert dargetan. Die Beschwerdeführer machen nicht deutlich, warum in der Feststellung von Tatsachen durch das Bundessozialgericht ein Verstoß gegen dieses Recht liegen soll. Sie setzen sich weder näher mit dem Begriff der generellen Tatsache, die das Revisionsgericht zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung anerkanntermaßen selbst feststellen kann, noch damit auseinander, warum im konkreten Fall die Willkürgrenze überschritten sein könnte. Zudem ist weder die Rüge, ein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter ergebe sich aus der fehlenden Vorlage an den Großen Senat des Bundessozialgerichts, noch der Vorwurf, das Landessozialgericht habe gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter verstoßen, hinreichend substantiiert dargetan.
Quelle: Pressemitteilung des BVerfG Nr. 90/2016 v. 07.12.2016
Rechtsprechung Zivilrecht – Arzthaftung
1. Fehlerhafte Behandlung mit Medikament „Carmen“
Die vom OLG Hamm getroffene Entscheidung zur fehlerhaften Behandlung eines Patienten mit dem Medikament Carmen ist nach der Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch den BGH rechtskräftig geworden.
In dem Rechtsstreit hatte die Klägerin das Universitätsklinikum Münster und eine in diesem tätige Ärztin auf Zahlung von materiellem Schadensersatz und Schmerzensgeld im Hinblick auf die ärztliche Behandlung ihres im November 2006 im Alter von 54 Jahren verstorbenen Ehemanns in Anspruch genommen. Nach einer im Jahre 1993 durchgeführten Nierentransplantation litt dieser an einer chronischen Niereninsuffizienz und an Bluthochdruck. Er wurde seit 2003 in der Nierentransplantationsambulanz des Uniklinikums behandelt. Dem beklagten Klinikum und der beklagten Ärztin hat die Klägerin in dem Rechtsstreit im Wesentlichen vorgeworfen, sie hätten den Tod ihres Mannes durch eine wenige Tage vor seinem Tod erfolgte, behandlungsfehlerhafte Gabe des Medikaments Carmen verschuldet.
Weder im erstinstanzlichen Verfahren vor dem LG Münster (Urt. v. 31.05.2012 – 111 O 164/09), noch im zweitinstanzlichen Verfahren vor dem OLG Hamm (Urt. v. 25.02.2015 – 3 U 110/12) konnte die Klägerin den ihr obliegenden Nachweis führen, dass eine fehlerhafte Behandlung ihres Mannes mit dem Medikament Carmen zu seinem Tod führte. Unter Berücksichtigung der in dem Verfahren erstatteten medizinischen Sachverständigengutachten konnte das OLG Hamm keine fehlerhafte Verordnung des Medikaments Carmen beim verstorbenen Ehemann der Klägerin feststellen. Das galt auch in Bezug auf weitere Medikamente, mit denen der Ehemann seinerzeit ebenfalls behandelt wurde, sowie unter Berücksichtigung des Einsatzes des Medikaments Carmen jenseits der vom Hersteller vorgegebenen Indikationen, im sog. Off-Label-Use.
Der BGH hat mit zwei Beschlüssen vom 20.09.2016 und vom 11.10.2016 die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin gegen das Urteil des OLG Hamm zurückgewiesen.
Die getroffene Entscheidung des OLG Hamm habe dem BGH keine Veranlassung gegeben, auf die Beschwerde der Klägerin die Revision gegen das Berufungsurteil zuzulassen. Das Berufungsgericht habe nach Auffassung des BGH unter Hinweis auf die Ausführungen der Gerichtssachverständigen auch ausführlich begründet, dass die Medikation mit dem Medikament Carmen indiziert gewesen sei und gegenüber anderen Medikamenten Vorteile gehabt hätte.
Die Prüfung der Arzthaftungssache durch die ordentliche Gerichtsbarkeit ist nunmehr abgeschlossen. Die Entscheidung des OLG Hamm ist rechtskräftig.
Quelle: Pressemitteilung des OLG Hamm v. 29.11.2016
2. Haftung bei nicht erkannter Reifeverzögerung der Hüfte beim Kleinkind
Das OLG Hamm hat entschieden, dass ein Kinderarzt, der bei der U3-Untersuchung eines Kleinkindes eine Reifeverzögerung der Hüfte aufgrund einer falschen Diagnose verkannt hat, und ein Orthopäde, der zur späteren Abklärung eines auffälligen Gangbildes des Kindes röntgenologische Befunde oder Kontrollen im engen zeitlichen Abstand versäumt hat, dem Kind auf Schadensersatz haften.
Die Klägerin wurde im Oktober 2009 mit einer reifeverzögerten Hüfte geboren und in der Folgezeit vom erstbeklagten Kinderarzt kinderärztlich betreut. Der Erstbeklagte bewertete bei der U3-Untersuchung im November 2009 die beiden Hüftgelenke als normal entwickelt. Nach der Beschreibung eines auffälligen Gangbildes durch die Eltern überwies der Erstbeklagte die Klägerin im Dezember 2010 an den zweitbeklagten Orthopäden. Dieser stellte zu Beginn des Jahres 2011 eine hinkende Gangart und weitere Auffälligkeiten beim Gehen fest und verordnete Krankengymnastik. Im Oktober 2011 hielt er das Gangbild für altersentsprechend. Im Februar 2012 diagnostizierte ein weiterer Orthopäde bei der Klägerin eine hohe Hüftgelenksluxation links, die im März 2012 operativ behandelt werden musste. Eine weitere Hüftoperation musste im September 2015 vorgenommen werden.
Mit der Begründung, die Beklagten hätten die Reifeverzögerung der Hüfte unzureichend untersucht bzw. behandelt, haben die Kindeseltern für die Klägerin von beiden Beklagten Schadensersatz verlangt, u.a. ein von beiden gemeinsam zu zahlendes Schmerzensgeld i.H.v. 65.000 Euro.
Das LG Münster hatte die Beklagten zur Zahlung von Schadensersatz verurteilt.
Das OLG Hamm hat den Erstbeklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes i.H.v. 25.000 Euro, den Zweitbeklagten i.H.v. 20.000 Euro verurteilt.
Nach Auffassung des Oberlandesgerichts ist dem Erstbeklagten bei der Auswertung des Hüftgelenkssonographiebefundes im Rahmen der U3-Untersuchung ein haftungsrelevanter Diagnosefehler unterlaufen. Er habe aufgrund einer unzureichenden Messung eine Fehlstellung des linken Hüftgelenks falsch klassifiziert und die Hüftgelenke fälschlicherweise als beidseits physiologisch normal entwickelt bewertet. Bei richtiger Messung zu diesem Zeitpunkt und anschließender konsequenter Behandlung der Reifeverzögerung wäre es zu einer vollständigen Ausreifung der Hüfte gekommen. Die Luxation und die sich anschließenden Operationen wären der Klägerin erspart geblieben.
Der Zweitbeklagte hafte, weil er es bei einem Wiedervorstellungstermin der Klägerin im Februar 2011 behandlungsfehlerhaft versäumt habe, in ausreichendem Umfang weitere Befunde zu erheben. Das hinkende Gangbild und diverse Auffälligkeiten beim Gehen hätten Anlass zu einer sofortigen röntgenologischen Abklärung der möglichen Ursachen oder einer engmaschigen Kontrolle gegeben. Beides habe der Zweitbeklagte unterlassen, so dass sich die Fehlbildung im linken Hüftgelenk der Klägerin bis zur im März 2012 festgestellten hohen Hüftluxation habe fortentwickeln können.
Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes wirkten sich die tatsächlichen Beeinträchtigungen aus, die die Klägerin durch die Behandlungsfehler bei der Beklagten erlitten habe. Dabei sei beim Erstbeklagten schmerzensgelderhöhend zu berücksichtigen gewesen, dass die Erfolgschancen einer rein konservativen Therapie bei richtiger Behandlung der Klägerin im November 2009 hoch gewesen seien.
Quelle: Pressemitteilung des OLG Hamm v. 06.12.2016
3. Haftung bei mehrfach fehlerhaften OPs: Erstes Krankenhaus haftet auch für groben Behandlungsfehler einer weiteren Klinik
Das OLG Hamm hat entschieden, dass ein Krankenhaus, dass eine Patientin erstmalig fehlerhaft operiert hat, auch für die Folgen einzustehen hat, die durch eine zweite, grob fehlerhafte Behandlung in einer anderen Klinik hervorgerufen wurden.
Die im Jahre 1962 geborene Patientin litt an erheblichen Magenbeschwerden, begründet durch eine Magenanomalie (Upside-Down-Stomach in Form einer großen Fornixkaskade). Diese ließ sie im April 2009 im beklagten Krankenhaus in Recklinghausen operieren. Bei der Operation wurden die Nähte fehlerhaft so gesetzt, dass es erneut zum Abkippen und einer Verdrehung des Magens kam. Die deswegen notwendige Revisionsoperation wurde im Juni 2009 in einer Klinik in Herne durchgeführt. Bei dieser Operation löste der Operateur die bei der ersten Operation fehlerhaft fixierten Nähte, versäumte es aber, den Magen der Klägerin nunmehr korrekt zu befestigen. Die deswegen weiterhin bestehende Abkippung des Magens blieb im Anschluss längere Zeit unbehandelt und löste bei der Klägerin eine Magenblähung aus. Diese machte schließlich eine Magenteilresektion notwendig, in deren Folge es zu einer Magentransportschädigung kam. Zudem stellten sich Wundheilungsstörungen ein. Aufgrund dieser Folgen wurde die Klägerin bis zum Jahre 2013 wiederholt stationär behandelt und mehrfach operiert.
Vom beklagten Krankenhaus hat die Klägerin 70.000 Euro Schmerzensgeld sowie einen mit 2.600 Euro pro Monat für die Zeit ab der ersten Operation berechneten Haushaltsführungsschaden begehrt. Dabei hat sie gemeint, dass das beklagte Krankenhaus auch für die fehlerhafte Revisionsoperation und die weiteren Komplikationen einzustehen habe, die alle eine Folge der fehlerhaft durchgeführten ersten Operation seien.
Das LG Bochum hat der Klägerin 8.000 Euro Schmerzensgeld und einen für drei Monate berechneten Haushaltsführungsschaden in Höhe von 4.680 Euro zugesprochen. Dies insbesondere mit der Begründung, die fehlerhafte Revisionsoperation habe den Kausalzusammenhang unterbrochen, so dass das beklagte Krankenhaus nicht mehr für die Schäden hafte, die nach dieser Operation eingetreten seien.
Die Berufung der Klägerin gegen das landgerichtliche Urteil war vor dem OLG Hamm überwiegend erfolgreich. Das durch medizinische Sachverständige beratene Oberlandesgericht hat der Klägerin 70.000 Euro Schmerzensgeld sowie einen – bis Ende des Jahres 2013 – mit 30.160 Euro berechneten Haushaltsführungsschaden und für die Folgezeit Haushaltsführungskosten von monatlich 156 Euro zugesprochen.
Nach Auffassung des Oberlandesgerichts schuldet das beklagte Krankenhaus der Klägerin für den zwischen den Parteien nicht mehr umstrittenen Behandlungsfehler bei der ersten Operation Schmerzensgeld und materiellen Schadensersatz. Dabei sei die fehlerhafte Fixierung des Magens als einfacher Behandlungsfehler einzustufen. Allerdings hafte das beklagte Krankenhaus auch für die weiteren Schadensfolgen, die auf diesen Behandlungsfehler zurückzuführen seien. Entgegen der Auffassung des Landgerichts habe die fehlerhafte Revisionsoperation im Juni 2009 den rechtlichen Zurechnungszusammenhang zwischen dem ersten Behandlungsfehler und den weiteren Schadensfolgen nicht unterbrochen. Bei der Revisionsoperation sei es zwar grob behandlungsfehlerhaft versäumt worden, den Magen der Klägerin korrekt aufzuhängen. Die Revisionsoperation sei aber aufgrund der behandlungsfehlerhaften Erstoperation notwendig gewesen. In einem solchen Fall habe der erstbehandelnde Arzt haftungsrechtlich für den weiteren Eingriff und die mit ihm verbundenen Folgen einzustehen. Das gelte grundsätzlich auch, wenn der weitere Eingriff behandlungsfehlerhaft erfolge. Eine Ausnahme sei in derartigen Fällen nur dann zu machen, wenn der die Zweitschädigung herbeiführende Arzt in außergewöhnlich hohem Maße die an ein gewissenhaftes ärztliches Verhalten zu stellenden Anforderungen außer Acht lasse und derart gegen alle ärztlichen Regeln und Erfahrungen verstoße, dass der nach seiner Zweitbehandlung eingetretene Schaden im Rahmen einer haftungsrechtlichen Bewertung allein seinem Handeln zuzuordnen sei. Daher lasse nur ein besonders grober Behandlungsfehler den Zurechnungszusammenhang zu einem früheren Behandlungsfehler entfallen.
Ein solcher besonders grober Behandlungsfehler sei dem Operateur der Revisionsoperation nicht unterlaufen. Das Oberlandesgericht folge insoweit der Einschätzung des medizinischen Sachverständigen, die dieser unter Berücksichtigung der Zeugenaussage des Operateurs abgegeben habe. Der Fehler bei der Revisionsoperation sei zwar als schwerwiegend, aber noch nicht völlig ungewöhnlich und unsachgemäß einzustufen.
Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sei der besonders langwierige und komplikationsträchtige Krankheitsverlauf der Klägerin zu berücksichtigen. Von Mai 2009 bis Ende 2013 habe sich die Klägerin vielfachen ärztlichen Behandlungen und Operationen mit stationären Aufenthalten unterziehen müssen. Sie sei nach wie vor erheblich beeinträchtigt und werde ihr gesamtes weiteres Leben lang abdominellen Belastungsschmerzen ausgesetzt sein. In ihrer Haushaltsführung sei die Klägerin unter Berücksichtigung des eingeholten Sachverständigengutachtens bis Ende des Jahres 2013 weitgehend zu einem Drittel und in der Folgezeit noch zu 10% beeinträchtigt, hiernach bemesse sich der zugesprochene Haushaltsführungsschaden.