Teilhaberecht
LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 22.6.2023 – L 12 R 89/20
Zum Umfang der medizinischen Reha iSd § 16 Abs. 1 SGB 9
Eine stationäre medizinische Rehabilitation deckt nicht die Bereitstellung von Medikamenten zur Behandlung chronischer Krankheiten ab, sofern diese weder der Anlass noch der Schwerpunkt der Rehabilitationsmaßnahme waren und in keiner direkten Beziehung zur Rehabilitationsproblematik stehen.
Dies wurde durch ein Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen am 22. Juni 2023 (Az. L 12 R 89/20) bestätigt. Im zugrunde liegenden Fall litt die Klägerin, die sowohl kranken- als auch rentenversichert war, seit ihrer Kindheit an einer Überproduktion von Wachstumshormonen (Akromegalie) und nahm deshalb das Medikament Sandostatin ein. Ein Arzt verschrieb das Medikament zuletzt am 14. Juni 2016, und die Klägerin löste das Rezept kurz darauf ein. Am 30. Juni beantragte sie bei der Beklagten eine stationäre Rehabilitation nach einer Hüft-TEP-Operation. Die Beklagte verwies den Antrag an die Klägerin, die der Klägerin vom 2. Juli bis zum 22. Juli eine Rehabilitation gewährte. Während dieser Zeit setzte die Klägerin die Einnahme von Sandostatin fort. Die Beklagte erstattete der Klägerin die Rehabilitationskosten, lehnte jedoch eine Kostenerstattung für das während der Reha eingenommene Sandostatin ab. Die Klage blieb erfolglos.
Der geltend gemachte Anspruch ergibt sich nicht aus § 14 Absatz 4 Satz 1 SGB IX aF. Diese Vorschrift umfasst lediglich Aufwendungen für Rehabilitationsleistungen und scheidet als Anspruchsgrundlage aus, wenn der zweitangegangene Träger weder eine Rehabilitationsleistung nach eigenem Recht erbracht noch einen Anspruch gegen den erstangegangenen Träger erfüllt hat.
Die Versorgung mit Sandostatin fiel rechtlich unter die vertragsärztliche Versorgung, da sie in keinem Zusammenhang mit dem Rehabilitationsleiden stand. Ein Vertragsarzt hatte das Medikament vor der Rehabilitation verordnet, und während der Rehabilitation spielte die Akromegalie keine Rolle.
Auch wäre die Beklagte nicht zur Versorgung mit Sandostatin verpflichtet gewesen, selbst wenn sie die Rehabilitation bewilligt hätte. Die Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers zur Behandlung akuter, während der Rehabilitation auftretender Krankheiten gilt nur, wenn das Rehabilitationsleiden selbst akut behandlungsbedürftig wird. Da die Akromegalie bereits bei Beginn der Rehabilitation bestand und nicht akut war, wäre die Klägerin gemäß § 13 Absatz 3 SGB VI ihrerseits erstattungspflichtig geworden, wenn die Beklagte die Klägerin mit Sandostatin versorgt hätte. Eine Zuständigkeit der Beklagten wäre auch nicht aus § 15 Absatz 1 Satz 1 SGB VI i.V.m. § 26 Absatz 2 Nummer 3 aF, § 4 Absatz 2 SGB IX gefolgt, da zur medizinischen Rehabilitation auch die Versorgung mit Arzneimitteln zählt, wenn diese das Rehabilitationsziel fördern.
Die Auffassung des LSG, dass Krankenbehandlung nur unter engen Voraussetzungen Teil einer medizinischen Rehabilitation sein kann, stützt sich auf die Gesamtsystematik des SGB: Für Rehabilitationseinrichtungen gibt es keine Regelung, die eine umfassende Leistungszuständigkeit wie für Akutkrankenhäuser zuweist. Aus § 13 Absatz 3 SGB VI dürfte hier ebenfalls kein anderes Ergebnis folgen. Teilweise wird aus dem dort geregelten Kostenerstattungsanspruch des Rentenversicherungsträgers gegen die Krankenkasse für erbrachte Krankenbehandlung gefolgert, dass der Rentenversicherungsträger gegen Erstattung der Kosten auch unabhängig von einem Zusammenhang mit dem Rehabilitationsleiden die Behandlung von Krankheiten übernehmen kann, die während der Rehabilitation auftreten. Unabhängig davon, ob solche Leistungen der Krankenbehandlung materiell noch als Rehabilitation qualifiziert werden können, dürfte sich § 13 Absatz 3 hier zumindest deshalb nicht auswirken, weil die Zuständigkeitsvereinbarung nach Absatz 4 sich nur zu Krankheiten verhält, die sofortiger Behandlung bedürfen. Für chronische Begleiterkrankungen wie die Akromegalie der Klägerin soll es daher im Umkehrschluss wohl bei der Zuständigkeit der Krankenkasse bleiben.
Quelle: Dr. Philipp Weiß in NZS 7/2024, S.277