Sozialmedizin in Wissenschaft & Forschung
Sozialmedizin im geschichtlichen Kontext
Die Sozialmedizin ist eine medizinische Fachdisziplin, die in der universitären Forschung und Lehre, an Fachhochschulen und in der Praxis der Gesundheitsversorgung in sehr unterschiedlicher Weise verankert ist.
Die Sozialmedizin steht in der Reihe jener historischen Entwicklungen, aus denen auch die Sozialhygiene hervorgegangen ist. Diese betrafen vor allem
- die Wahrnehmung der sozialen Ungleichheit der Menschen vor Krankheit und Tod sowie
- der Chancen im Bedarfsfall Hilfe und Unterstützung zu erfahren und
- den Konflikt um die Frage, ob sich der Wissenschaftsanspruch medizinischer und gesundheitlicher Hilfeleistung auf bio-medizinisch orientierte Erklärungs- und Handlungskonzepte reduzieren lässt.
Die Konzeptualisierung von Gesundheit, Krankheit und Behinderung sowie die der Hilfeleistung und der hierzu erforderlichen Voraussetzungen aus sozialwissenschaftlicher Sicht bilden somit den besonderen Beitrag der Sozialmedizin zu den medizinischen Wissenschaften insgesamt. Sie ist damit gleichsam die Konsequenz eines humanwissenschaftlichen Menschenbildes, das menschliche Individualität nicht auf eine biologische Funktionalität reduziert und die Aufgaben der Medizin nicht auf die eines Reparaturbetriebes eingrenzt.
Konfliktfelder der Sozialmedizin
Damit spiegeln sich alle Konflikte um
- das Menschenbild,
- die Konzeptualisierung von Gesundheit und Krankheit sowie um
- die der Verantwortung für Hilfeleistung und
- die hierzu erforderlichen Voraussetzungen seitens der Gesundheitssicherungs- und Gesundheitsversorgungssysteme
auch in den Konflikten in und um die Sozialmedizin.
Sozialmedizin im Kontext der Versorgungssysteme
Diese Konfliktträchtigkeit ist einer der Gründe für die unzureichende und oft nur gegen Widerstände mögliche Etablierung der Sozialmedizin als akademische Disziplin. Die Schwierigkeit der theoretischen und konzeptionellen Formierung des Fachgebiets wird durch den Umstand verstärkt, dass es jeweils in den unterschiedlichen Systemen der Gesundheitssicherung und –versorgung auch sehr verschiedene Aufgaben wahrzunehmen hat. Die Sozialmedizin hat sich deshalb international sehr unterschiedlich profiliert:
- Unter den Bedingungen eines marktwirtschaftlich organisierten Versorgungstyps sind es vor allem die Erfahrungen der Sozialepidemiologie, die die Sozialmedizin prägen.
- In steuerfinanzierten Systemen sind es maßgeblich die Ermittlung von prioritären Gesundheitsproblemen der Bevölkerung und die Evaluation der Effektivität und der Effizienz der Versorgungsangebote, die das Fachgebiet profilieren.
- Unter den Bedingungen der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Selbstverwaltung mit ihren stark auf Ausgleich der Akteursinteressen durch Verhandlungen orientierten Natur, hat sich folgerichtig auch kaum ein an den Wissenschaften orientierter Erklärungs- und Beratungsbedarf entwickelt, da Regulation und Steuerung des Systems dem Verhandlungserfolg jeweils der interessierten Akteure folgen.
Sozialmedizin vs. Sozialversicherung
Sozialmedizin wird deshalb von der Medizin insgesamt offenbar nicht in seiner Erkenntnisfunktion, sondern eher als Dienstleistung und „Partei“ in Interessenkämpfen oder nur als „Sozialversicherungsmedizin“ wahrgenommen. Diese Reduktion wird z.T. fortdauernd durch den Umstand verstärkt, dass eine Reetablierung der Sozialhygiene nach dem 2. Weltkrieg in der Bundesrepublik nicht gelang und sich die einzelnen Arbeitsgebiete der Sozialhygiene der Weimarer Republik, (in heutiger Begriffswelt) also die Sozialepidemiologie, die Sozialmedizin, die Medizinsoziologie, die Gesundheitssystemforschung, die medizinische Demografie oder die Versorgungsforschung und das Gesundheitsmanagement, sofern in der Medizin überhaupt als Einzelwissenschaften, sich am ehesten außerhalb eines medizinischen Zusammenhangs, z. B. in dem von Public Health, etabliert haben bzw. sich zu etablieren versuchen.
Trotz eines erheblichen und auch wachsenden Bedarfs an „Sozialmedizin“ stellt sich dieses Fachgebiet heute positionell schwach und ungefestigt dar. Dies könnte als Beleg für die Erfahrung gelten, dass multi- und interdisziplinäre Bedarfe an wissenschaftlichen Disziplinen sich zwar in unmittelbaren (und in der Regel zeitweiligen) Arbeitszusammenhängen nicht aber in tradierten Wissenschaftsstrukturen als stabile Disziplinen erfolgreich etablieren lassen.
Die für die Bundesrepublik zu konstatierende und angesichts des Umfangs gesundheitsbezogener Gesundheitsdienstleistungen erhebliche Schwäche der Sozialmedizin ist deshalb nicht oder nicht nur ein Reflex auf die Enge des in der Medizin reflektierten Menschenbildes und der hieraus folgenden Konzeptionen von Gesundheit und Krankheit, sondern auch eine Folge von Verteilungskonflikten und schwierigen Verhältnissen zwischen Politik und Wissenschaft.
Praktische Sozialmedizin
Anders ist dies in der praktischen Sozialmedizin, die, bezogen auf den Leistungsumfang, zu den wichtigsten Spezialisierungen mit unmittelbarer Versorgungswirkung innerhalb des komplexen Gebäudes einer arbeitsteiligen gesundheitsbezogenen Dienstleistung gerechnet werden muss. Hier ist sie vor allem in drei Bezügen im Gesundheitsversorgungssystem der Bundesrepublik verankert:
- Als praktische Aufgabe bei der Bewältigung von sozialen Ursachen und Folgen von Krankheit und Behinderung in vielfältigen (und auf ärztliche nicht einzugrenzenden) Professionen der sozialen Hilfe und der Überwachung gesundheitsrelevanter Lebensbereiche (z. B. Amtsärzte, Berufe der sozialen Betreuung von Personen mit eingeschränkter Selbstständigkeit und Selbsthilfefähigkeit, wie z. B. Sozialarbeiter),
- als eine der maßgeblichen Praxisqualifikation im Gesundheitsmanagement (Institutionen der Gesundheitssicherung und der Gesundheitsversorgung, der Gesundheitsämter und Behörden, der Kassenärztlichen Vereinigungen, der Akteure der Selbstverwaltung) und
- als Begutachtungsdienst in der Sozialversicherung mit erheblicher praktischer Bedeutung in der Gesundheitsversorgung und sozialen Absicherung von Krankheits- und Behinderungsfolgen (Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung, der Arbeitsverwaltungen, der Rentenversicherer und der Unfallversicherung).
Sozialmedizin vs. „Soziale Medizin“
Der Versuch einer Fachgebietsbeschreibung verlangt, den spezifischen Erkenntnismöglichkeiten und den praktischen Aufgaben gleichermaßen Rechnung zu tragen.
Für eine solche Annäherung ist die Deutung des Adjektivs „sozial“ leitgebend und verlangt vor allem eine Abgrenzung von der Deutungsenge des Sozialen als Milieu. „Sozial“ umschreibt hier die Gesamtheit der Rückwirkungen des (Gattungswesens) Menschen und seines Tuns auf sich selbst, die Grundlagen seiner Existenz und die Aufgaben der Gesundheitssicherung für künftige Generationen.
Sozialmedizin im Wandel der Zeit
Das aber bedeutet, dass das Besondere und auch abgrenzende der Sozialmedizin, die Wirkungen des Menschen auf sich selbst sind. Die primäre Schlüsselwahrnehmung der Sozialmedizin ist also die der Veränderung von Gesundheitsproblemen im Ablauf der Zeit als Folge des sozialen Wandels. Der Begriff Zeit bezieht sich dabei sowohl auf Aspekte der Transition im Sinne eines epochalen oder geschichtlichen Wandels von Gesundheitsproblemen (Lebensverlängerungsprozess, Akzeleration, Compression of Morbidity) als auch passagerer Störungen (Epidemien), wie den des Lebensalters (Altersspezifik von Gesundheitsproblemen und –bedürfnissen). Soweit diese Veränderungen nicht zufälligen, sondern systematischen Charakter haben, sind sie auch durch eine Richtung und eine Geschwindigkeit ebenfalls als Folge menschlichen Handeln zu charakterisieren. Dies schließt ein, dass sich alle solche Veränderungen nach Richtung und Geschwindigkeit in unterschiedlichen Bevölkerungen bzw. zwischen sozialen Gruppen und Schichten unterschiedlich vollziehen können, also auch Unterschiede in den Gesundheitsproblemen erzeugen oder überwinden. Soziale Prozesse sind damit auch zusätzlich zur biologischen Variabilität die Ursache der Ungleichverteilung von Gesundheitsrisiken, Krankheiten und Hilfebedarfen zwischen den Menschen. Sozialmedizinische Erklärungen grenzen solche Unterschiede ebenso von Begriff des „Schicksals“ wie dem der „Schuld“ (Moral Hazard) ab.
Gleichgültig, ob sich „Wandel“ und „Verschiedenheit“ in bzw. zwischen Bevölkerungen als (positive wie negative) Folgen der Art und Weise des Erwerbs und der Verteilung menschlicher Existenzmittel oder wiederum als deren Rückwirkung auf die sozialen und natürlichen Bedingungen menschlichen Seins darstellen, immer sind es Folgen des Menschen für sich selbst. Deshalb sind es soziale Folgen und deshalb sind es wiederum soziale Konsequenzen, die aus solchen Kenntnissen folgen (sollten).
Dies bedeutet schließlich, dass die von Menschen erzeugte und veränderte Lebensweise und die Folgen für die soziale Lage und die Lebensstile der Individuen, sozialen Gruppen und sozialen Schichten den Kernbestand einer (dann allerdings grundsätzlich nur multi- und interdisziplinär zu begreifenden) Sozialmedizin darstellen. Nach dem die Konstruktion einer solchen medizinischen Disziplin als Sozialhygiene offenbar gescheitert ist, bleibt abzuwarten, ob ein solcher Forschungs- und Praxisbereich unter der Bezeichnung Public Health lebensfähig sein kann und die hierbei notwendige große Integrationsleistung der Humanwissenschaften unter Einschluss auch der Sozialmedizin leisten wird. Trotz vielfältiger Versuche der Etablierung von Public Health ist diese Frage bisher offen.
Definition der Sozialmedizin
Unter der gezeichneten Prämisse wird hier unter Sozialmedizin ein Teil des Gesamtzusammenhangs von Gesundheitswissenschaften verstanden und zwar jenes Teils, der quasi als eine „potenzielle“ medizinische Disziplin, die
- die Phänomenologie,
- die sozialen Ursachen und
- die Folgen
sich wandelnder Gesundheitsprobleme untersucht, um Konsequenzen für die Gesundheitsförderung, die Prävention, die medizinische Versorgung und Betreuung sowie die Rehabilitation, besonders auf der Ebene der Sicherungssysteme, der Versorgungsorganisation und der Versorgungsprozesse zu ziehen.
Die Sozialmedizin begreift dabei den epochalen Wandel der gesundheitsbezogenen Belastungen der Menschen als einen sozialen Prozess, in dessen Folge sich die Struktur
- von Gesundheitsgefährdungen,
- von vorkommenden Krankheiten,
- des medizinischen Hilfebedarfs,
- der Krankheitsfolgen,
- der Behinderungen und
- der Todesursachen
differenziert nach Richtung, Geschwindigkeit und sozialer Schicht verändert.
Bedeutung der Sozialmedizin für die Gesundheitsversorgung
Die praktische Nutzung solcher Erkenntnisse für die Programm- und Infrastrukturgestaltung
- der Gesundheitsförderung,
- der Prävention und
- der Gesundheitsversorgung
sind zwar politische Entscheidungen, diese sind jedoch nicht nur wissenschaftlich vorzubereiten, sondern auch hinsichtlich ihrer Wirkungen zu beschreiben und zu bewerten (Versorgungsforschung, Evaluationsforschung, Folgeabschätzung politischer Entscheidungen).
Die Praxis der Sozialmedizin findet sich folgerichtig dort, wo
- Hilfebedarf definiert (Gesundheitspolitik, Feststellung prioritärer Gesundheitsziele, Bedarfsfeststellung und Bedarfsplanung),
- Hilfeangebote organisiert und gesteuert (Steuerung von Gesundheitsleistungen, Evaluation, Versorgungsforschung, Controlling, Consulting) werden und
- für nachfrageschwache Personengruppen gezielte und zugehende Hilfen zu organisieren sind (Community Medicine, Soziale Dienste, Dispensairebetreuung, Case Management, Disease Management, Öffentlicher Gesundheitsdienst) sowie
- Hilfeleistung überwacht und bewertet wird (Utilization Review, Versorgungsforschung, Qualitätssicherung).